14. Mai 2024 | Janine Kohnen | Beitrag

„Nein“ sagen, damit sich was bewegt

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Was gilt es eigentlich alles beim Planen und Bauen abzulehnen, um bewusstere Entscheidungen zu treffen? Und welche Lösungsansätze kristallisieren sich aus diesem klaren „Nein“ heraus, die zu mehr Wertebewusstsein führen und auf dem Weg zur Bauwende unterstützen?

Nach dem erfolgreichen Auftakt des ersten Round Table zur Initiative „Wertvolle Wand“ luden die Kooperationspartner, vertreten durch Peter Theissing von KS-Original und Christian Poprawa von Saint-Gobain Weber, am 8. April 2024 zu einer zweiten Runde ein. Unter dem Titel „Refuse“ diskutierten sie gemeinsam mit Prof. Dr. Christoph Grafe, Kathrin Albrecht, Carlo Sporkmann und Anna Lina Bartl. Moderiert wurde die Veranstaltung von Dr. Tania Ost.

Hin zu einer nutzerorientierten Architektur

„Seit Jahrzehnten betrachten wir das Bauen durch eine rein ökonomische Brille“, stellte Wirtschaftsredakteur Carlo Sporkmann zum Auftakt der Veranstaltung fest. Ziel im Bauwesen, da war sich die Expert*innenrunde einig, sollte vielmehr sein, Ökonomie, Ökologie, Soziales sowie Ästhetik und Kultur in ein gesundes Gleichgewicht zu bringen.

Gruppenbild Round Table 2

Von links nach rechts: Christian Poprawa, Carlo Sporkmann, Anna Lina Bartl, Kathrin Albrecht, Prof. Dr. Christoph Grafe, Dr. Tania Ost und Peter Theissing

Dies könne durch eine nutzerorientierte Architektur erreicht werden – also Städte und Gebäude, die unterschiedliche Lebens-, Wohn- und Arbeitsformen einer pluralistischen Gesellschaft ermöglichen. Hierzu sei aber auch eine stärkere Fokussierung auf das interdisziplinäre Arbeiten notwendig, um ganzheitlichere Lösungen zu entwickeln, so die Agrar- und Ernährungswissenschaftlerin Anna Lina Bartl. Als Beispiele nannte sie die gleichzeitige Nutzung von Gebäudeflächen für die Nahrungsmittelproduktion und die Weiterverwendung von landwirtschaftlichen Reststoffen als Baumaterial.

Wertschätzung des Bestehenden

Immer komplexere Anforderungen und so mancher Optimierungswahn am Gebäudebestand hätten, da waren sich alle Anwesenden mit Bedauern einig, bei Sanierungen und Umbauten teilweise zum Verlust historischer Gebäude bis hin zu ganzen Quartieren geführt. Zudem hätten traditionelle und bewährte Bautechniken sowie handwerkliche Fertigkeiten in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung verloren. „Durch eine Rückbesinnung auf lokale Bautypologien und bewährte Bauweisen sowie die Förderung des heimischen Handwerks erhalten wir die baukulturelle und ästhetische Vielfalt und wirken einem Qualitätsverlust entgegen“, befürwortete Christian Poprawa. Peter Theissing ergänzte: „Hinzu kommt, dass die regionale Materialbeschaffung einen wichtigen Beitrag leistet, die Umweltbelastung zu reduzieren, da kurze Transportwege entstehen.“

Grundsätzlich sollte das Weiterbauen von Bestehendem an die Stelle von voreiligem Abriss und Neubau treten, erklärte Prof. Dr. Christoph Grafe, der an der Uni Wuppertal Architekturtheorie und -geschichte lehrt. „Wenn es wahr ist, dass in einer endlichen Welt ein ‚Weiter so‘ schlicht unmöglich ist, dann ist die Weigerung ein erster Schritt zur Umkehr: zum Denken und Bauen aus dem, was schon da ist, zum inspirierten, pragmatischen, kreativen Weiterbauen,“ führte er weiter aus. Und für Carlo Sporkman stand fest: „Wir brauchen dringend ein Umdenken in den Köpfen. Etwas Altes, das modernisiert wird, sollte als genauso wertvoll betrachtet werden wie etwas Neues.“ Ein solches Umdenken in der Bevölkerung könne dazu beitragen, dass der Bestand als wertvolle Ressource wahrgenommen und damit anders bewertet und gepflegt würde, pflichtete Kathrin Albrecht bei.

Mehr Materialoffenheit und Experimentierfreude

Da sich das technologische Spielfeld inzwischen geändert habe, sollten auch Konstruktionen und Baustoffe, die bisher klar getrennt betrachtet wurden, gegebenenfalls miteinander kombiniert werden.

Christoph Grafe

Den Status quo zu hinterfragen und vermeintliche Alternativlosigkeit abzulehnen, brachte Prof. Dr. Christoph Grafe zu Beginn in die Diskussion ein

Round Table 2

Grundsätzlich, so waren sich die Anwesenden einig, ist ein klares „Ja“ zum Umdenken, zur Veränderung und zum Wandel notwendig

„Wir dürfen uns nicht nur auf die eine Bauweise oder das eine Material konzentrieren. Stattdessen brauchen wir ein sinnvolles Nebeneinander verschiedener Wege“, warf Christian Poprawa ein. Eine Lösung für das Weiterbauen und auch für das Neubauen könne sein, über die Konstruktion zu neuen Konzepten zu kommen, ergänzte Prof. Dr. Christoph Grafe. Für die Teilnehmenden bedeutete dies ein „Ja“ zu mehr Materialoffenheit und zum experimentellen Bauen. Unterstützen könnte dabei auch ein intensiver Austausch und Wissenstransfer zwischen Bauindustrie und Architekturschaffenden, um Bauprodukte und -techniken weiterzuentwickeln. „Gerade im Hinblick auf Rückbaubarkeit und Wiederverwendung könnten wir so gemeinsam den Weg zu einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft ebnen“, so Peter Theissing.

Weniger Regeln, mehr Experimentierfreude

Unzählige Normen und gesetzliche Regelungen legen zukunftsweisenden Ideen noch vor Planungsstart Steine in den Weg. Verschiedenste Initiativen und Verbände innerhalb als auch außerhalb der Baubranche fordern deshalb eine Deregulierung und die Schaffung innovationsfördernder Rahmenbedingungen – vor allem auf politischer und gesetzlicher Ebene. Dieser Forderung schloss sich auch die Teilnehmerrunde des Round Tables an.

Aufgrund komplizierter Genehmigungsverfahren sowie der unbedingten Vermeidung von Unsicherheiten und Risiken würden Privatpersonen als auch Unternehmen, die zukunftsfähig agieren wollen, nahezu gelähmt, waren sich die Expert*innen einig. Gleichzeitig sollten auch Mitarbeitende in Genehmigungsbehörden ermutigt werden, mehr Entscheidungsfreiheit und Verantwortung für ihre Region zu übernehmen. „Dazu bedarf es aber auch einer breiten gesellschaftlichen Debatte, denn gesetzliche Änderungen und mehr Freiheiten erfordern den Aufbau einer gewissen Vertrauenskultur sowie einen entsprechenden Umgang der Bürgerinnen und Bürger miteinander“, fügte Prof. Dr. Christoph Grafe hinzu. Eine offene Fehlerkultur würde in diesem Zusammenhang ebenfalls einen wichtigen Beitrag leisten. Generell stünden Aufwand, Kosten und Nutzen bei Bauprojekten aller Art aufgrund der bürokratischen Hürden derzeit in keinem ausgewogenen Verhältnis. Gleiches gelte in Bezug auf Zertifizierungen im Bauwesen. Diese seien zwar zunächst ein attraktiver Anreiz und garantierten eine Qualitätskontrolle auf Seiten der Bauherrschaft. Allerdings plädierten die Teilnehmenden auch hier für ein gesundes Gleichgewicht zwischen Aufwand und Nutzen und das kritische Hinterfragen einzelner Zertifizierungen.

Theissing Round Table

Ablehnung bedeutet immer auch, bewusst eine subjektiv positivere Haltung einzunehmen, so Peter Theissing

Kathrin Albrecht

Kathrin Albrecht zitierte aus dem Architects Declare Practise Guide, dass Architekturschaffende in ihrem beruflichen Handeln einen 196-mal größeren Hebel haben, CO2 Emissionen zu reduzieren, als wenn sie ihren eigenen Lebensstil ändern würden

Die Macht der Kommunikation

Zum Abschluss stand für die Anwesenden fest: Ein „Das haben wir schon immer so gemacht“ ist nicht mehr zu akzeptieren. Aus einer ablehnenden Haltung, also einem klaren „Nein“ zu etwas, erwachse im Umkehrschluss immer ein „Ja“. Für die Expert*innenrunde bedeutete dies ein klares „Ja“ zum Umdenken, zu mehr Eigenverantwortung und Entscheidungsfreiheit sowie zu mehr Mut, um Herausforderungen, seien sie auch mit Unsicherheiten verbunden, anzunehmen.

Eine differenzierte, aber zugleich gesamtgesellschaftliche Betrachtung ist für eine erfolgreiche Bauwende notwendig. Das bedeutet, miteinander ins Gespräch zu kommen und mehr Gemeinsamkeit zu wagen – durch Kommunikation, Vermittlung und Diskurs, wie es auch die Initiative „Wertvolle Wand“ macht. Wir alle müssen verstehen, welche Rolle Architektur in unserem Leben spielt, denn letztendlich betrifft Architektur die gesamte Gesellschaft.

Autor
Janine Kohnen

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