Bad Kissingen

Das wertvolle Erbe der 70er Jahre

Umnutzung eines Gemeindezentrums zum Bürostandort

In Bad Kissingen erweckten Tragraum Ingenieure gemeinsam mit Schlicht Lamprecht Kern Architekten das einstige Zentrum der evangelischen Kirchengemeinde aus dem Dornröschenschlaf – und mit ihm auch das charakteristische Sichtmauerwerk aus Kalksandstein.

„Wir haben für unseren unterfränkischen Standort mit circa 15 Mitarbeitenden neue Büroräume gesucht“, blickt Daniel Dahinten von Tragraum Ingenieuren zurück. Etwas Außergewöhnliches, Identitätsstiftendes sollte es sein. Über einen Kontakt wurde er auf das leerstehende Gemeindehaus in Bad Kissingen aufmerksam. 2019 kauften Tragraum Ingenieure das Gebäude aus Kalksandstein-Sichtmauerwerk, das auf den Münchener Architekten Hans-Busso von Busse zurückgeht.

Da das Ingenieurbüro seine Expertise in der Entwicklung von Tragwerken und konstruktiven Lösungen hat, kamen für die architektonische Planung Schlicht Lamprecht Kern Architekten aus Schweinfurt ins Spiel. Das 15-köpfige Team ist neben der Architektur vor allem in der Stadtplanung, Ortsentwicklung und Denkmalpflege tätig.

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Das Gebäude an der vielbefahrenen Straßenkreuzung in Bad Kissingen erstrahlt heute in neuem Glanz.

Mehr als ein Nutzungszyklus

Als Nachfolger eines Kirchenbaus aus dem 19. Jahrhundert wurde das Gemeindezentrum im Jahr 1970 fertiggestellt. Es beherbergte Veranstaltungs- und Gruppenräume, die sich aneinander gliedern und teilweise überschneiden.  Räumliche Grenzen werden lediglich durch die Decke definiert, die je nach Bereich höher oder niedriger ist.

„Durch diese ‚Konglomerat-Architektur‘ geht man von einem Raum in den nächsten über und bei Bedarf lassen sie sich auch miteinander verbinden“, erklärt Christian Kern, Architekt und Partner bei Schlicht Lamprecht Kern Architekten. Diese Offenheit im Erdgeschoss konnte bis auf minimale Eingriffe erhalten werden: Das Herzstück, der ehemalige große Saal, wurde zum Großraumbüro. Für Besprechungen oder stilles Arbeiten zog man zwei raumhohe Glasschiebewände ein, um bei Bedarf zwei separate Räume zur Verfügung zu haben. Die übrigen Räume im Erdgeschoss werden von Tragraum Ingenieuren heute als Einzelbüros und Personalraum genutzt. „Durch diese geringen Eingriffe, kann das Gebäude je nach Bedarf künftig noch einmal umgebaut oder umgenutzt werden – auch wieder zum Gemeindehaus“, so Dahinten.

Der Weg zum Denkmal

Ziel bei der Umnutzung war es, möglichst viel Bausubstanz zu erhalten. Deshalb zogen die Planenden das Denkmalamt zur Bewertung hinzu. Schließlich war es der gute Zustand von Konstruktion, Möbeln und Oberflächen – nach fast 60 Jahren Nutzung lediglich mit gewöhnlichen Gebrauchsspuren –, der im Jahr 2021 zur Würdigung als Denkmal führte.

Den größten konstruktiven Eingriff stellte der Einbau der Oberlichter im großen Saal dar. Heute sorgen sie nicht nur für eine deutlich bessere Belichtung der Arbeitsräume, sondern unterstützen auch das ursprüngliche Konzept der Lichtführung und den neuen Raumeindruck. Auch der Umgang mit der Innenausstattung folgte dem möglichst großen Erhalt: Parkettböden, Wandfarben und Fenster wurden überarbeitet und repariert, historische Schranktüren wurden zugunsten einer neuen Aufteilung zu Falttüren umgebaut.

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Vor der Sanierung: Sowohl die Fassade als auch Fensterrahmen und Tür hatten ihre einstige Farbigkeit verloren und waren stark verschmutzt.

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Die hergestellten Oberflächen werden durch zurückhaltende weiße Möbel ergänzt.

BadKissingen Sichtmauerwerk

Die robuste Bausubstanz war nach fast 60 Jahren Nutzungszeit bis auf gewöhnliche Gebrauchsspuren noch in so gutem Zustand, dass sämtliche Oberflächen und Materialien erhalten werden konnten.

Mauerwerk mit Sichtqualität

Das Gebäude wurde als Stahlbetonskelettbau errichtet, zwischen den Stahlbetonstützen ausgemauert und innen wie außen mit Mauerwerk aus kleinformatigen Kalksandsteinen im Normalformat verblendet. Die Außenwände führte von Busse zweischalig in einer Dicke von 61,5 cm aus, mit einer mittig liegenden Luftschicht als Wärmedämmung.

Zunächst wollte Daniel Dahinten die Innenwände in Weiß überstreichen. Grund für diesen ersten Impuls war vor allem, dass das KS-Sichtmauerwerk der Fassade stark verschmutzt und die Innenwände im Laufe der Jahre von einem grauen Schleier überzogen wurden. Christian Kern und sein Team konnten ihn jedoch vom Erhalt des Originalzustands und einer Säuberung des gesamten KS-Mauerwerks überzeugen.

Identitätsstiftende Oberfläche wiederbelebt

Kalksandstein besteht aus Kalk, Sand und Wasser. Unter Wasserdampfdruck werden diese natürlichen Bestandteile zu einem hochfesten und tragfähigen Wandbaustoff gehärtet. Dementsprechend konnten die wechselnden Witterungseinflüsse den technischen und bauphysikalischen Eigenschaften der Bausubstanz des einstigen Gemeindehauses zwar nichts anhaben. Der fehlende Oberflächenschutz auf der Fassade machte sie jedoch anfällig für Schmutz von der nahegelegenen Straße. Darüber hinaus war ein Teil der Außenwandfläche durch die Haftwurzeln von wildem Wein beschädigt.

Für die Reinigung der Fassadenflächen wurden gemeinsam mit Fachbetrieben umfangreiche Versuchsreihen durchgeführt. Letzten Endes erzielte man mit einer Kombination aus heißem, klarem Wasserdampf im Hochdruckwasserstrahlverfahren und anschließendem Abschleifen mit einem Schwingschleifer das gewünschte Ergebnis. Um die Fassade vor zukünftigen Witterungseinflüssen zu schützen, erhielt sie abschließend eine Hydrophobierung als Oberflächenschutz.

Die Reinigung der Innenwände war vergleichsweise einfach: Mithilfe des Trockeneisstrahlverfahrens war der gesamte Innenraum innerhalb einer Woche gereinigt und die einstige Erscheinung der KS-Wände als herausragendes, identitätsstiftendes Merkmal des Gebäudes wiederhergestellt.

BadKissingen Innenhof

Während sich das Gebäude der einstigen Nutzung entsprechend zur Straßenseite geschlossen präsentiert, öffnet es sich zum privaten Innenhof.

BadKissingen Bar

Neue Möbel wie die Bar wurden an das bestehende Farbkonzept angepasst.

Neue Nutzung, neue(s) Leben

Dem interdisziplinären Team aus Bauherrn, Planenden und Handwerk ist es gelungen, den Wert der Architektur und der gut erhaltenen Bausubstanz zu erkennen und sie mit Liebe zum Detail und der nötigen Experimentierfreude wieder zum Leben zu erwecken. Mag die Funktion des einstigen Zentrums für die Gemeinde inzwischen eine gänzlich andere sein, führten der behutsame, durchdachte Erhalt und seine Einstufung als Denkmal doch zu (mindestens) einer neuen Nutzungsphase.

Bauaufgabe
Bauen im Bestand
Lage
Bad Kissingen
Architektur/Bauplanung
Tragraum Ingenieure, Schlicht Lamprecht Kern Architektur Stadtplanung
Fertigstellung
2023

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